Jeden Tag ging sie zum Briefkasten, in der Hoffnung auf den einen Brief.
Wieder zog sie erwartungsvoll ein dünnes Kuvert heraus. Vielleicht war das endlich die Nachricht, auf die sie so verzweifelt wartete.
Enttäuschung.
Der Brief war gar nicht an sie adressiert sondern an einen Nachbarn, den sie nur vom Klingelschild kannte.
In einem Haus mit mehr als hundert Bewohnern hatte sie Schwierigkeiten, sich überhaupt alle Namen zu merken.
Sie ließ ihren Blick über die vielen Briefkästen schweifen. Der Brief gehörte ausgerechnet in den einen Kasten, aus dem schon die Briefe herausquollen. Vielleicht hatte der Briefträger deshalb das Kuvert bei ihr eingeworfen.
Unschlüssig stand sie vor dem überfüllten Briefkasten. Keine Chance den Brief einzuwerfen, ohne ihn zu beschädigen.
Am besten, sie schob ihn unter der Wohnungstür durch.
Weil der Aufzug wieder einmal defekt war, quälte sie sich die Treppen bis in den siebten Stock hinauf und starrte auf den fremden Brief in ihren Händen.
Ob der Empfänger verreist war? Oder war er längst ausgezogen?
Vielleicht war er erkrankt und unbemerkt in seiner Wohnung verstorben?
Hatte sie sowas nicht schon einmal gehört?
Nervös erreichte sie die Wohnungstür und erwischte sich dabei, wie sie prüfend schnüffelte – kein Verwesungsgeruch.
Sie könnte den Brief unter der Tür durchschieben. Aber dann würde sie sich noch ewig fragen, ob der Nachbar nur seinen Briefkastenschlüssel verloren hatte oder vielleicht Hilfe brauchte.
Sie klingelte.
Und wartete.
Hinter der Tür klapperte es.
Sie atmete erleichtert auf.
Die Tür öffnete sich und sie lächelte den jungen Mann auf Krüken an…
Dieser Text entstand als Mikrofiktion auf der Plattform Sweek